Vor einigen Tagen hatte ich einen kurzen Austausch mit einer Bekannten zu den Themen Schwierigkeiten mit der Einschulung und Gesundheit und Reizüberflutung im Allgemeinen. Bei mir kam sofort die Assoziation zur Hochsensibilität.
Mit einem Mal sah ich in meinem Kopf wie im Zeitraffer einen kurzen Film: sich ändernde, wandelnde, sich entwickelnde Glaubenssätze zum Thema Hochsensibilität.
Hochsensibilität als Ausrede
Meinen ersten Kontakt mit dem Wort Hochsensibilität hatte ich vor Jahrzehnten – ich glaube in den 1990ern durch meine Mutter. Mit der ihr eigenen Härte schimpfte sie über diesen Begriff und meinte, dass dies alles nur neumodischer Kram und Spinnerei sei und eine Ausrede für Menschen, einfach nicht funktionieren zu wollen.
Diese Aussage prägte mich dann etliche Jahrzehnte lang. Mein daraus entwickelter Glaubenssatz war, dass es so etwas gar nicht gibt. Menschen, die sich trauten, sich so zu bezeichnen, ernteten dann immer einen Hauch von Verachtung, weil ich glaubte, sie würden sich bewusst vor Verantwortung drücken, abgrenzen und als etwas besseres ansehen.
Hochsensibilität als Manko, Störung oder Krankheit
Als ich Anfang der 1980er im Kindergartenalter war, ging meine Mutter mit mir einmal zu einer Kinderpsychologin. Grund dafür war, dass ich mich die ganzen drei Jahre lang nicht in den Kindergarten einleben konnte: jeden Morgen gab es ein Riesentheater, viele Tränen, Geschrei und körperlichen Widerstand. Tagsüber konnte ich mich nicht anpassen, mittags bin ich weder den kollektiv verordnenden Mittagsschlaf gefallen noch konnte ich diesen Zustand vortäuschen, nachmittags war ich reizüberflutet und erschöpft.
Diese Psychologin erklärte meiner Mutter, dass bei mir ein paar Filter fehlen würden, dass ich immer alle Reize ungefiltert aufnehmen würde und mein Gehirn nicht schaffe, diese Reize auch zu verarbeiten. Diese Diagnose stellte natürlich wieder ein Manko dar. Ein paar Wochen lang wurde mit Beruhigungsmitteln experimentiert, da aber die Kindergärtnerin auf Nachfrage hin keine Veränderung feststellte, wurden diese glücklicherweise wieder abgesetzt.
Ähnlich ging es im Grundschulalter weiter, bis ich mich etwa im Alter von 10-11 Jahren vollständig verstanden habe, anzupassen und einfach nicht mehr aufzufallen. Bis vor einigen Jahren blieb aber dieses Manko, zu wenige Filter zu haben, als negativ in meinem System verankert.
Und von Zeit zu Zeit traf ich auf Menschen, die sich selbst als hochsensibel bezeichnen und für die ich kein Verständnis aufbringen konnte. Im Laufe der Jahrzehnte häuften sich diese Menschen, das Thema wurde langsam salonfähig und wurde auch immer mehr in der Öffentlichkeit thematisiert.
Die erste Annahme, die mein System zu den Ursachen der Hochsensibilität annahm (oder aufnahm, vielleicht war es ja eine anfängliche offizielle Theorie, ich habe mich noch nie wissenschaftlich oder intensiv mit diesem Thema beschäftigt), war, dass Hochsensibilität durch Traumatisierung entsteht. Danach sei jeder Mensch „normal-sensibel“ und nur durch Erfahrungen und Schutzmechanismen besonders wachsam, also hochsensibel.
Hochsensibilität als Urzustand und tatsächlicher Normalzustand
Irgendwann vor einigen Jahren kam auch bei mir die Einsicht, dass ich hochsensibel bin. Momentan weiß ich nicht einmal, ob der Groschen diesbezüglich mit einem Mal oder in einzelnen Pfennigen gefallen ist (darüber werde ich wirklich mal nachdenken, vielleicht fällt es mir dann irgendwann wieder ein).
Und je länger ich mich mit der Hochsensibilität beschäftige, sie bei meinen Kindern und meinen Mitmenschen wahrnehme – und natürlich auch die im zunehmenden Bewusstsein veröffentlichten Vorträge und Beiträge höre und lese – wird mir bewusst, dass hochsensibilität eben kein Manko ist. Es ist auch kein bloßer Überlebensschutzmechanismus. Im Gegenteil: jeder Mensch kommt hoch sensibel zur Welt.
Hochsensibilität ist der Urzustand des Menschen. Je nachdem, wie sie sich zeigt, nehmen wir sie unterschiedlich stark bei den kleinen und großen Menschen wahr… Bei uns Erwachsenen wurde sie ganz schön weg-konditioniert.
Ich finde es daher ganz besonders schön, meine Kinder entsprechend frei aufwachsen und sich entfalten zu lassen und sie in ihren besonderen Wahrnehmungen und Fähigkeiten nicht zu beschneiden und einzuschränken.
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